Der lange Weg

Das Tanzgut ist Liebe, Heilung und Frieden gewidmet. Dafür bietet der Ort Raum für Gemeinschaft, Praxis und Ritual. Alles große Worte, die wir uns erst seit drei Jahren trauen zu benutzen und das auch nur verbunden mit einer sehr langfristigen Perspektive. Dass es also dauert bis wahre Gemeinschaft entsteht, bis ein Leben durchdrungen ist von Praxis und wir stimmige Rituale vollziehen.

 

Gemeinschaft

Menschen, die aus indigenen Gemeinschaften in unsere westliche Welt kommen, bemerken schnell das große Gemeinschaftsdefizit, das hier besteht. Das Individuum ist stark ausgeprägt, einzelne Freundschaften, die Kleinfamilie, manchmal noch die Verwandtschaft und die Großfamilie doch dann kommt die große Leerstelle. Wer wie ich hier sozialisiert und aufgewachsen ist, nimmt diese Leerstelle in der Regel nicht bewusst wahr. Manchmal hat man vielleicht eine leise Ahnung, doch da es für fast alle die absolute Normalität ist, sehr auf sich bezogen zu leben, fällt diese Abweichung von einer indigenen, gemeinschaftlichen Lebensweise nicht auf. Ich fand das Buch „The Healing Wisdom of Africa“ von Malidoma Some in dieser Hinsicht sehr inspirierend. Malidoma Some kontrastiert Beobachtungen der amerikanischen Gesellschaft beispielsweise die Wahl des Ehepartners oder den Ablauf der Hochzeit mit seinen Erfahrungen aus einem traditionellen afrikanischen Dorf. Welchen Menschen heirate ich und welche Aufgabe habe ich im Leben, werden in seiner Dorfgemeinschaft nicht als rein persönliche Fragen betrachtet sondern sie sind bezogen und verwoben mit der Gemeinschaft. Die Aufgabe der Ältesten ist es, die Gemeinschaftsmitglieder dabei zu unterstützen, gute Entscheidungen zu treffen. Sie arbeiten dafür mit Ritualen, diese wiederum sind Teil einer gemeinschaftlichen Praxis und verbinden den Einzelnen mit der Gemeinschaft, die Gemeinschaft untereinander und helfen immer wieder, Harmonie herzustellen – beim Einzelnen, in Beziehungen, in der Gemeinschaft. Soweit der Versuch ein paar wesentliche Inhalte dieses Buches hier kurz zu skizzieren, ansonsten natürlich absolute Leseempfehlung. (wie auch schon bei den Lesetipps aufgeführt)

Ich will Gemeinschaften dieser Art nicht idyllisch verklären. Vielmehr geht es mir darum den potentiellen Umfang dieses Wortes wenigstens etwas anzudeuten. In Deutschland gibt es einige Projekte, die sich als Lebensgemeinschaften verstehen und auch im Tanzgut Umfeld ist das ein beliebtes Thema: In eine Gemeinschaft zu ziehen oder eine Gemeinschaft zu gründen. Aus meiner Sicht wird vielfach unterschätzt, wie stark wir von dem Individualismus, der uns umgibt, geprägt sind. Viele Projekte entstehen aus einem urbanen akademischen Milieu heraus und funktionieren eher wie große Wohngemeinschaften, mit einer stärkeren Bezogenheit als ein Single-Haushalt aber doch weiterhin sehr individualistisch. Meistens auch deutlich individualistischer als eine Familie, da in einer Familie durch das Aufwachsen der Kinder ein sehr langfristiger Horizont vorliegt, der mehrere Menschen und deren Leben verbindet. Mit Anfang 20 habe ich mich intensiver mit diesen Gemeinschaftsprojekten beschäftigt und mich nach einigen Erfahrungen mit einer eigenen Gruppe und vielen Kontakten in die Szene gegen das Gründen oder Einziehen in ein solches Projekt entschieden und für einen eigenen Weg.

 

Wir leben in sehr ungeduldigen Zeiten. Alles soll schnell gehen. Die Aufmerksamkeitsökonomie und der Internetkapitalismus haben das in den letzten Jahren noch einmal auf die Spitze getrieben: Schnell reich und erfolgreich werden, persönliches Wachstum in 30-Tage-Online-Trainings und vieles mehr. Ich ziehe in eine Gemeinschaft oder gründe eine, unterliegt oft einer gewissen Ungeduld schnell etwas wie Nähe oder Verbundenheit zu bekommen, zum Beispiel, wenn gerade Partnerschaft oder Familie fehlt. Gemeinschaft, so wie ich sie hier verstehe ist etwas, was aus meiner Sicht viele Jahre, Jahrzehnte, vielleicht auch Generationen bedarf. Das oben anskizzierte Beispiel einer traditionellen afrikanischen Gemeinschaft ist natürlich weit weg von unserer Lebenswelt und in gewisser Hinsicht vollkommen unrealistisch umzusetzen, gleichzeitig bietet es aus meiner Sicht eine sehr starke Inspiration für einen Wandlungsprozess, bei dem es um die Integration von indigener Weisheit mit westlicher moderner Lebensweise geht. Gewissermaßen zwei sehr unterschiedliche Pole, die in eine gute Balance – wie im yin-yang-Bild – gebracht werden können, was allerdings viel Geduld erfordert.

Unseren eigenen Lebensweg sehe ich als einen Versuch, Gemeinschaft auf dem langen Weg mehr und mehr in unser Leben zu integrieren. Durchaus mit einer doppelten Perspektive: Zum Einen Teil der dörflichen Gemeinschaft zu werden, unseren Platz hier zu finden, uns einzubringen und mitzumachen bei den verbindenden Aktivitäten im Jahreskreis wie dem Maibaumstellen oder dem sommerlichen Dorffest. Zum Anderen mit dem Tanzgut einen Bezugspunkt für die Gemeinschaft derer zu schaffen, die sich als tänzerisch lebende verstehen, damit über die Jahre ein gemeinschaftliches Gewebe entsteht (siehe auch den Beitrag hier ).

Je länger ich diesen Weg gehe, desto länger erscheint er mir. Durchaus mit einigem Bedauern, dass vieles solange Zeit braucht, soviele Erfahrungen, Begegnungen und Schritte notwendig sind. Doch mir erscheint es sinnvoll, da für mich der Begriff Gemeinschaft, manche sagen auch Heimat über die Jahre immer mehr Tiefe und Weite gewonnen hat. Etwas, wofür es sich lohnt, auch jahrelang in eine Richtung zu gehen. Schmerz ist unangenehm doch ihn hier zu fühlen notwendig als Orientierung, wofür es sich lohnt etwas zu unternehmen. Der Schmerz getrennt zu sein, vom sozialen und vom ökologischen Organismus um uns herum. Die Entwurzelung als ein Bild, um wieder vorsichtig neue Wurzeln zu bilden. Sich mit einem Ort, einer Region zu verbinden, auch unterirdisch in die Tiefe zu gehen, Teil eines Bodens zu sein, im Kontakt mit anderen schon mehr oder weniger verwurzelten Menschen zu stehen, um über viele Jahre Gemeinschaft und Heimat zu finden. Das bedeutet für mich der lange Weg.

Es ist für mich eine Perspektive, die auch mit Blick auf die eigene Entwicklung, Praxis oder Rituale Sinn macht. Zum Beispiel versuchen, stimmige Rituale für Übergänge in unseren Leben zu finden.

Sich aber bewusst zu sein, dass sie unvollkommen sind und noch großes Potential in sich tragen. Sie sind Teil der Heilung doch noch nicht die Heilung an sich. Der lange Weg hilft uns, Demut zu lernen und eine gewisse Bescheidenheit bei all unseren mutigen Unterfangen, die oftmals nur erste kleine Schritte sind. Etwas leiser sein, weniger versprechen, mehr Geduld haben mit sich, den anderen und der Welt.

 

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