Was tun? Indigen werden

Ich probiere hier mal einen Bogen zu schlagen von der Lage der Menschheit bis zum Einsatz der Motorsäge im Tanzgut. Ich hoffe ihr kommt mit ;-)

 

Der Beitrag schließt an den letzten zu Trauma an. Während es dort um Trennung auf der individuellen und kollektiven menschlichen Ebene ging, wird es in diesem Beitrag größer und kleiner zugleich. Es geht um eine Heilung und Rückverbindung in mehreren Bereichen. Thomas Hübl spricht von drei Trennungen: Auf der sozialen Ebene, auf der spirituellen Ebene und auf der ökologischen Ebene. Diese sind natürlich verwoben, wie in dem Beitrag deutlich werden sollte. Charles Eisenstein spricht gerne von der alten Geschichte, als eine Geschichte der Trennung. Und der neuen Geschichte als eine der Verbindung. Spannend wird es, wie das ganz konkret und alltäglich aussehen und gelingen kann. Ich finde indigen werden (von lateinisch indigenus „eingeboren“) dafür einen hilfreichen Ansatz. Was verstehe ich darunter? Sich von verschiedenen früheren oder aktuellen indigenen Kulturen inspirieren lassen und sich als moderner westeuropäischer Mensch in seiner individuellen wie kollektiven Entwicklung daran orientieren. Als eine Art Leitstern. Das Ziel ist dabei nicht genauso wieder zu leben wie die Kelten vor langer Zeit oder wie die Hopi oder Lakota teilweise bis vor kürzerer Zeit doch sich diesen Lebensweisen wieder anzunähern. Damit wir uns wieder als „Geschöpfe des Waldes“ (Wolf-Dieter Storl) erleben, die eine Verbindung zur beseelten, heiligen Natur und Landschaft um uns herum verspüren, uns verbunden fühlen mit einer Gemeinschaft, die über unsere direkte Familie hinausgeht und dass wir diese Verbindungen durch unsere kulturelle Praxis miteinander verweben. Die Textform hier im Blog ist ein gewisser Kompromiss, da indigene Tradition in der Regel mit direkter mündliche Überlieferung verbunden ist und genau dadurch lebendig bleibt, dass Geschichten immer wieder neu, leicht verändert weitergegeben werden. Doch wie schon angedeutet, geht es eben darum auch Elemente moderner westlicher Zivilisation beizubehalten, zu nutzen, zu verbinden, in diesem Fall also Schrift, Blog, Internet, Laptop usw.

Die Geschichte von mir, uns und dem Mitmachhaus, Tanzgut und tänzerisch leben kann als eine Geschichte des indigen werdens erzählt werden. Als ein offener, nicht abgeschlossener Prozess sich bewusst in eine bestimmte Richtung zu entwickeln. Als ein Versuch mit den oben beschriebenen Trennungen konkret, lokal umzugehen. Es ist ein Versuch unter vielen und ich freue mich, wenn ich mich mit Freunden austausche, die andere Versuche gestartet haben und wir uns jetzt nach einigen Jahren wiedersehen und merke wie sich Erfahrungen überschneiden, ergänzen, auf jeden Fall bereichern. So lernen Freunde von mir Tierspuren verstehen, andere bestimmen Wildkräuter und integrieren sie in ihre Ernährung. Andere organisieren Schwitzhütten, Übergangsrituale für Jugendliche oder initiieren Männer- oder Frauenkreise in ihren Regionen. Für mich alles verbundene Aktivitäten, die vor allem besonders dann Kraft entfalten, wenn sie eine soziale, ökologische und spirituelle Dimension mit einschließen, wenn sie von einer fragenden und forschenden Haltung getragen sind, denn wir sind aus meiner Sicht alles uralte Anfängerinnen in diesem Feld. Uralt, da wir, wenn wir uns diese Vorstellung erlauben, als Seelen seit langer langer Zeit auf dieser Erde immer wieder wiedergeboren wurden. Anfängerinnen, da wir auch die zahllosen Trennungen von Ackerbau, Krieg, Ideologien und Technologien mitgemacht haben. Wir können also an sehr alte Erinnerungen anknüpfen doch müssen gleichzeitig neue Wege in diesen veränderten Zeiten und Umgebungen finden.

Hier vor Ort habe ich daher sehr vieles intuitiv gemacht, letztlich aus unbewussten Erinnerungen heraus, die durchs Tun und Reflektieren dann bewusst(er) wurden. Einiges auch mit sehr bewussten Entscheidungen, um bestimmte moderne Muster zu durchbrechen und nicht immer weiter zu reproduzieren. Dazu gehörte für mich der bewusste Umgang mit Technik: Was brauche ich und das Projekt wirklich? Erst einmal bei 0 anfangen und ausprobieren. Wie lässt sich mit bloßen Händen etwas an Haus und Garten gestalten. Mit zu Hilfenahme von Schaufel, Besen und Säge. Mit dem Einsatz von Motorsäge und Motorsense. Mit dem Waschen per Hand, Spülen per Hand, Putzen per Hand. Oder eben dann doch Staubsauger und Spülmaschine? Zwei Schritte vor und einer zurück, war manchmal dann das unbewusste Motto. Also ausprobieren und zu lernen: Bei aller Technik: Du gewinnst etwas und du verlierst etwas. „Fortschritt“ praktisch dekonstruiert: Du bekommst mit einer Motorsäge neue Möglichkeiten der Weltgestaltung und gleichzeitig verlierst du etwas wie den Kontakt zu den Vögeln, da die Motorsäge sehr laut ist. Der aktuelle Mix ist inzwischen relativ stabil, mit der Zeit habe ich eine gewisse Balance für mich und den Ort gefunden: Ein Bagger kommt mir erstmal nicht mehr aufs Gelände, weil sie soviel zerstören bei ihrem Einsatz. Motorsense und Säge sowenig wie möglich und immer verbunden mit Kommunikation mit den Naturwesen, Pflanzen und Tieren. Gespült wird immer draußen von Hand. Draußendusche. Minimal Elektrik und elektrisches Licht. Kein-W-Lan. Nachts wird es kalt und dunkel. Sternenhimmel. Keine Heizung. Zwei, drei Öfen. Lagerfeuer. Warme Stellen, die die Menschen zusammenbringen. Formate, die möglichst wenig formatiert sind. Damit Menschen Zeit und Raum haben sich zu begegnen, dem Ort und der Natur hier. Ein Freund sagte mal: „Warum kämpft ein Bär nicht mit Dir? Weil es in der Natur kein Krankenhaus gibt.“ Verletzungen sind also zu vermeiden. Ich erzähle gern, dass es in indigenen Gemeinschaften keine Steuerberater gibt. Dass wir auf diesem Weg, uns auf Tätigkeiten konzentrieren, die im Idealfall sowohl in modernen Gesellschaften als auch in indigenen Gemeinschaften Sinn machen. Beispielsweise gärtnern, musizieren oder Menschen in Übergangssituationen wie Geburt und Tod zu begleiten. Und unsere spezifisch modernen Fähigkeiten, die wir zum Geldverdienen brauchen, reduzieren und mit anderen ergänzen, auch wenn sie niemals ökonomisch verwertbar werden. Indigen werden als Leitstern führt daher zu anderen Entscheidungen als wenn wir komplett im Paradigma von Arbeitsteilung, Spezialisierung und Fokus auf Erwerbsarbeit bleiben. Es macht daher auch für mich keinen Sinn, indigene Praktiken wieder in alte Muster zu packen und 40h pro Woche als schamanischer Heiler im Büro mit Behandlungsraum zu arbeiten, mit Youtube-Promo-Videos und 79,- Session-Angeboten sondern im Idealfall kommen Form und Inhalt zusammen. Und entsteht eine Mischung, die die neue Geschichte eher stärkt als die alte. Im Ergebnis sieht das meistens unspektakulärer aus. Ganzheitlichkeit in diesem Sinne ist daher weniger aufmerksamkeitsheischend sondern eben eher das stille Wachsen eines Waldes. Lasst uns zusammen wachsen.

 

 

 

 

Bücher:

Wolf-Dieter Storl: Wir sind Geschöpfe des Waldes

Robin Wall-Kimmerer: Geflochtenes Süßgras

Malidoma Some: The Healing Wisdom auf Africa

Charles Eisenstein: Die schönere Welt, die unser Herzen kennt ist möglich

 

PS: Zum Bild. Kärchern wir den Sandstein oder wachsen wir mit dem Moos? Ich bin ein Freund des Sowohl-als-auch doch manchmal gilt eben auch ein entweder-oder ;-)

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