Wir erleben gerade eine Zeit der Zuspitzung, Kriege und diverser Krisen. Was tun in diesen Zeiten? Wir können daran verzweifeln und sorgenvoll in die Zukunft schauen. Uns ablenken, Probleme verdrängen und ausblenden. Sich mit Tätern oder Opfern identifizieren und sicher einige weitere Möglichkeiten mit dieser Situation umzugehen. Ein Ansatz, der mir hilft zuversichtlich und handlungsfähig zu bleiben, ist es traumasensibel zu werden.
Es war Anfang 2021 als ich auf ein Interview mit dem Psychotherapeuten Franz Ruppert stieß, das mich sofort faszinierte. Ich las mehrere von seinen Büchern. Insbesondere das 2018 erschienene Büchlein „Wer bin ich in einer traumatisierten Gesellschaft?“ habe ich seitdem oft weiterempfohlen. Da damals bei mir in der Nähe regelmäßig Seminare mit seiner Methode stattfanden, besuchte ich mehrere Termine, um den von Ruppert entwickelten Ansatz der Selbstbegegnungen praktisch zu erleben und eigene Anliegen anzugehen. Dabei werden Themen in einer Form von Aufstellungsarbeit mit Stellvertretern bearbeitet. Der Zugang beispielsweise über ein aktuelles körperliches Symptom ermöglicht es, Erlebnisse aus dem Unbewussten zu bearbeiten. Denn viele Traumatisierungen sind uns gar nicht bewusst und die Bewusstwerdung ist schon Teil der Heilung . Wie der Buchtitel schon nahelegt, geht Ruppert davon aus, dass Traumatisierung ein Massenphänomen ist und fast alle in unserer Gesellschaft multipel traumatisiert sind. Das meint nicht den in manchen Kreisen inflationären Gebrauch des Wortes „traumatisch“ für relativ harmlose Alltagserfahrungen sondern wird sehr konkret definiert:
„Ein erlittener Schaden wird zu einer persönlichen traumatischen Lebenserfahrung, wenn der betroffene Mensch sich durch eine Tat oder durch die Unterlassung einer Tat eines anderen Menschen im Zustand der Hilflosigkeit und Ohnmacht erlebt. Wenn zudem all seine automatisch aktivierten Stressreaktionen, Angriff oder Flucht, ihm nichts helfen, sondern den Schaden nur noch größer machen. Dann werden Notfallreaktionen wie Erstarren, Einfrieren, Dissoziieren, Spalten der Persönlichkeit notwendig, um zumindest die Überlebenswahrscheinlichkeit zu erhöhen.“ (Ruppert 2018 S.80)
Im Ergebnis haben wir Traumatisierten eine gespaltene Psyche: Mit einem gesunden Anteil, einem traumatisierten Anteil und einem Überlebensanteil. Auch wenn viele Traumatisierungen aus unserer Zeit als Baby und Kleinkind stammen und lange her erscheinen, haben sie einen lebenslangen Einfluss, da sie nicht automatisch irgendwann heilen sondern bewusst bearbeitet werden müssen. Ansonsten geschieht es immer wieder, dass der traumatisierte Anteil oder der Überlebensanteil aktiv werden auch wenn die Situation von außen betrachtet relativ harmlos und unspektakulär erscheint. Wir reagieren mit einer Schockstarre, Lähmung oder emotionalen Überreaktionen: Heulkrämpfe oder Wutausbrüche, die in keinem Verhältnis zur aktuellen Situation stehen.
Für mich war diese Erkenntnis augenöffnend, um mich selbst und andere besser zu verstehen: Ich konnte an unangemessenen Reaktionen meinerseits erkennen, dass ich hier etwas zu bearbeiten habe. Und ich konnte die Überreaktionen der anderen bei ihnen lassen und nicht auf mich beziehen (oder nur den Teil der wirklich zu mir gehört hat). Ich hatte in den letzten drei Jahren viele Gelegenheiten zu üben. Immer wieder begegnete ich stark traumatisierte Menschen, mit denen ich einen gesunden Umgang finden wollte. Meine zunehmende Traumasensibilität half mir beispielsweise bei Begegnungen insgesamt oder auch bei Verhandlungen realistischere Erwartungen und Ziele zu haben. Wenn Menschen überwiegend gesund sind und auch aus ihren gesunden Anteilen heraus verhandeln, ist meistens mit relativ wenig Aufwand ein fairer Interessensausgleich möglich. Wenn Menschen stark traumatisiert sind, erleben sie die Welt insgesamt als feindlich, fast alle Situationen als bedrohlich und sind in einem konstanten Kampfmodus. Hier lernte ich immer wieder aufs Neue Vertrauen und Sicherheit herzustellen. Verbundenheit zu ermöglichen, Wohlwollen zu zeigen, damit die Menschen wieder Zugang zu ihrem gesunden Anteil fanden und darüber Kontakt und Begegnung möglich wurde.
Die allermeisten Menschen sind glücklicherweise nicht so stark traumatisiert und der Kontakt eher leichter. Doch auch hier fand ich einen traumasensiblen Ansatz hilfreich. „Ist die Reaktion angemessen zur Situation?“ wurde meine Prüffrage für mein eigenes Verhalten wie das der anderen. Natürlich sind Menschen unterschiedlich: Manche ruhiger andere temperamentvoller. Dennoch gibt es Überreaktionen, auf die wir uns verständigen können: Wenn also ein Verhalten oder die Energie dahinter einfach unpassend zur Situation ist. Ich selbst habe wegen Kleinigkeiten Wutausbrüche gehabt und bin Menschen unverhältnismäßig heftig angegangen. In anderen wichtigen Situationen verfiel ich in eine Lähmung, dabei wären die nächsten Handlungsschritte naheliegend gewesen. Zunächst habe ich diese Reaktionen erst mit Abstand, also im Rückblick erkannt. Inzwischen bin ich aufmerksamer geworden und mir fällt es meistens schon auf, während ich so handle. Ich bemerke wie meine Stimme, Energie, Körpersprache sich verändert, ich also nicht mehr in einer gesunden tänzerischen Haltung bin und mir die Leichtigkeit verloren geht.
Es gibt viele Bücher und Themen, die mich begeistern und einige wenige Monate lang dazu führen, allen Menschen aus meinem Umfeld davon zu erzählen. Trauma ist dagegen zu einem Dauerbrenner geworden, weil es mir als besonders hilfreich erscheint, die kleine wie die große Welt besser zu verstehen. So spielen unverarbeitete kollektive Traumata eine große Rolle in der Weltpolitik und werden mit einer gewissen Schärfung der Wahrnehmung vielfach sichtbar. Traumasensibel zu werden empfinde ich als einen wichtigen Aspekt für ein tänzerisches leben, denn sie hilft alle Menschen liebevoll zu betrachten. Wir heilen nicht andere doch wir können uns, unseren eigenen Themen stellen. Wir können andere ermutigen und inspirieren und Bedingungen schaffen, die Heilung wahrscheinlicher machen. Traumasensibel werden, ist ein Beitrag, der für jeden einzelnen von uns möglich ist. Wir können etwas für Liebe, Heilung und Frieden in der Welt tun.
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Robin (Sonntag, 21 April 2024 12:49)
Mir ist der Ansatz im Kontext mit Desinformation begegnet: Traumatisierte Menschen halten sich eher an einfachen Narrativen, weil die Vielfalt der Perspektive auf Welt zu belastend ist. Ich frage mich, wie gesantgesellschaftliche Traumata bearbeitet werden können, wie zum Beispiel die Wiedervereinigung oder die Corona Pandemie.
Philipp (Montag, 22 April 2024 11:46)
Hi Robin, Thomas Hübl adressiert mit seinen Formate direkt kollektive Traumata ( https://pocketproject.org/ ) , ich habe mich damit noch nicht viel beschäftigt und auch sein Buch "Kollektive Traumata heilen" nur auszugsweise gelesen daher auch nicht in dem Text thematisiert. Gleichzeitig glaube ich, dass viele Ansätze und Bewegungen hilfreich sind um Gesellschaften traumasensibler zu machen. Je mehr Menschen sich mit Traumaaufarbeitung beschäftigt haben desto leichter können sie auch ein Heilung unterstützendes Feld für andere miterschaffen.