Praktizieren und kulturkreatives Forschen

Tänzerisch leben bedeutet friedlich, heilend und liebevoll zu leben. Das Tanzgut ist ein Ort für eine lebensförderliche Kultur, die genau diese zentralen Werte Frieden, Heilung und Liebe unterstützen soll. Gemeinschaft, Praxis und Ritual sind wichtige Bestandteile dieser Kultur. Im letzten Beitrag ging es um Gemeinschaft, in diesem soll es um Praxis gehen und um unser„kultur-kreatives“ Selbstverständnis.

 

Von Anfang an ging es uns darum, eine zukunftsfähige Kultur praktisch zu erforschen. Bewusst, dass wir von modernen Strukturen umgeben sind, die es zu berücksichtigen gilt: wie spezialisierte Arbeitswelten oder technische Transport- und Kommunikationswege. Bewusst aber auch, dass wir Wurzeln brauchen, dass wir wieder „indigen“ werden müssen, um Teil des Ökosystems zu werden. Als Europäer können wir uns dabei von den keltischen oder germanischen Kulturen inspirieren lassen, die einen starken Bezug zu Jahreszeiten oder hier heimischen Pflanzen haben. Gleichzeitig haben wir Zugang zu einem Schatz an Traditionen aus allen Weltregionen.

 

Wir sind nicht mehr Teil einer lebendigen indigenen Kultur, in die wir hineingeboren werden, in der wir aufwachsen und beschäftigen uns oft erst als Erwachsene mit den Fragen „Was ist unsere Kultur?“ oder spezifisch für diesen Eintrag: „Was ist meine Praxis?“ Dabei gibt es unterschiedliche Möglichkeiten, eine Antwort darauf zu finden: Ein Weg ist es, bestehende Formen oberflächlich zu imitieren, Yoga wird dann zu sportlicher Gymnastik oder es wird meditiert, um Stress zu reduzieren. Dabei besteht die Gefahr, dass viel von der ursprünglichen Kraft verloren geht, wenn beispielsweise die feinstoffliche Ebene, die spirituelle Dimension der Übungen wenig berücksichtigt wird. Andererseits gibt es die Möglichkeit, eine Praxis detailgetreu zu kopieren, also beispielsweise Schwitzhütten in Lakota-Tradition durchzuführen oder Zen in japanischen Gewändern mit Rezitation japanischer Verse. Dabei besteht die Gefahr, dass für uns Kulturfremde bestimmte Handlungen gar nicht verständlich sind oder ohne den kulturellen Kontext ihren Sinn verlieren. Die Praxis fühlt sich dann „aufgesetzt“ und eben nicht authentisch an. Oder im Moment der Praxis fühlt es sich zwar stimmig an, die Praxis ist aber nicht gut in unser Leben und eine gemeinsame Kultur eingebettet, wirkt also wie eine „Insel“.

 

Tänzerisch leben und das Tanzgut stehen dabei eher für eine dritte Möglichkeit: Inspiriert von den bestehenden Traditionen bewusst gemeinsam eine neue Kultur zu schaffen, die eine eigene stimmige Praxis mit einschließt. Als Praxis verstehen wir Übungsformen, die in uns eine tänzerische Haltung nähren. Das kann beispielsweise Meditation, Tanz, Yoga oder Singen sein. Folgend auch der Zen-Philosophie (wie im Beitrag zur Haltung schon angedeutet) geht es nicht nur um die halbe Stunde Meditation am Tag sondern auch darum den Alltag als Übung zu sehen. Und als dritte Ebene auch das ganze Leben als eine Übung oder schöner ausgedrückt: Das Leben als einen Tanz.

 

Durch das Importieren verschiedener Praxisformen in einen anderen Kulturraum werden sie fast zwangsläufig stärker voneinander getrennt. Menschen machen hier also einen Meditations-, Yoga oder Tai-Chi Kurs. Das kann zu einer einseitigen Praxis führen, da nicht umsonst in Klöstern eine Kombination verschiedener Formen praktiziert wird: In Stille im Sitzen zu meditieren, gemeinsam Mantren zu rezitieren, Bewegungsmeditationen usw. Als Ausweg sehe ich weniger die komplette Praxiskombination beispielsweise des chinesischen Shaolin-Klosters zu übernehmen als vielmehr sich davon inspirieren zu lassen, eine eigene stimmige Kombination zu entwickeln. Das Ganze durchaus im Austausch mit anderen und unter Berücksichtigung der aktuellen Umständen, in denen wir leben. Denn je nach Lebensphase braucht es manchmal mehr fürs Herz, manchmal eher etwas körperliches, dynamisches oder die Stille.

 

Unterschiedliche Orte haben dabei verschiedene Stärken und Schwächen: In Seminarzentren werden in der Regel unterschiedliche Ansätze in Workshop-Form vermittelt, während in Klöstern, eine bestimmte Tradition gelebt wird, an der Gäste für eine bestimmte Zeit teilnehmen können. Dagegen ermöglicht das Tanzgut und die Offenheit dieses Raumes uns und unseren mitgestaltenden Gästen praktisch und ganzheitlich zu forschen. Klöster haben oftmals eine intensive, oft kulturell sehr reiche Praxis, gleichzeitig ist der strenge, stark reglementierte Klosteralltag mit mehreren Stunden Praxis am Tag nur für sehr wenige Menschen wirklich attraktiv und das Modell nur bedingt anschlussfähig an eine moderne Lebenswelt.


In vielen Seminarhäusern finden sehr unterschiedliche Seminare zeitgleich und nacheinander statt, was eine intensive Erfahrung der Praxis als auch der Gemeinschaft erschwert: Eine besondere Kraft und Tiefe entsteht, wenn über lange Zeiträume mit ähnlicher Intention an einem Ort praktiziert wird und dieser Ort vor schädlichen Einflüssen geschützt bleibt. Wenn Tempel wirklich nur zum Beten genutzt werden, haben sie eine andere Schwingung als wenn sie vor allem von Touristen und Händlern belebt werden. In Seminarhäusern, die von Wohnprojekten betrieben werden, sind neben den Seminaren auch Mitarbeiter und Bewohnerinnen vor Ort und verändern damit die Energie dieses Ortes. Das Tanzgut ist daher bewusst nicht für eine Alltagsnutzung, nicht für Wohnen, Arbeit oder Urlaub sondern für eine bewusste gemeinschaftliche Praxis gedacht.

 

Auch in Kursen, Weiterbildungen oder Workshops entstehen Gemeinschaftsmomente oder ein Gemeinschaftsgefühl. Gleichzeitig kommen die Teilnehmer meist aus unterschiedlichsten Regionen, haben verschiedenste Hintergründe und stehen nicht in einer Alltagsbeziehung zueinander. Diese Mischung kann sehr inspirierend sein, gleichzeitig gewinnen Praxis und besonders auch Rituale (dazu im nächsten Beitrag mehr) dann an Kraft, wenn wir sie mit Menschen durchführen, zu denen wir auch sonst in Beziehung stehen, die uns jahrelang kennen, denen wir vertrauen. Der Ansatz des Gemeinschaftsgewebes (siehe vorherigen Beitrag) ist ein Versuch diesen Mangel an Gemeinschaft ansatzweise zu heilen. Da die meisten von uns in einer individualisierten Gesellschaft aufgewachsen sind, ist es schwer dieses Gemeinschaftsdefizit wirklich wahrzunehmen. Dagegen fällt es Menschen, die aus indigenen Gemeinschaften kommen extrem auf, dass wir sehr individualisiert aber eben auch isoliert voneinander leben.

 

Für eine Gesellschaft sind Räume für Innovation wichtig, in der durch eine bestimmte Ausrichtung und gleichzeitige Offenheit Neues entstehen kann. Das gilt für technische Innovation, die letztlich auch der gesamten Gesellschaft zugute kommen kann ebenso wie für soziale Innovation, für persönliche und gemeinschaftliche Erneuerung. Praxis hat in diesem Sinne auch diese drei Dimensionen: Gesellschaft, Gemeinschaft und Individuum. Wir können als Einzelne im Alltag eine uns gemäße Praxis pflegen, bewusst durch die Natur streifen oder spielerisch kämpfen und damit eine Haltung kultivieren, die unseren Alltag durchdringt und letztlich auch unser Leben, dass wir also ein tänzerisches Leben führen. Im Tanzgut wiederum können wir zusammenkommen und gemeinsam praktizieren, was eine andere Intensität hat, weil ein Feld verstärkt wird, das alle unterstützt. Oder in einem anderen Bild, ein Fluss mehr Kraft bekommt, der alle mitträgt. Das Flussbett steht dabei für die bewegliche und doch klare Ausrichtung des Tanzgutes. Die gemeinsamen Momente bestärken wiederum für die Praxis im Alltag. Gleichzeitig bietet der Ort Ermutigung und Inspiration nach der eigenen Praxis sowie der gemeinsamen Kultur zu forschen. Ein Ort mit wechselnden Gruppenkonstellationen, die in einem Beziehungsgewebe alle miteinander verbunden sind. Ein Ort, an dem verschiedene Praxisformen kultiviert werden und die dennoch alle mit einer tänzerischen Haltung verbunden sind. Ein Ort, an dem wir versuchen, eine Einheit von Form und Inhalt herzustellen: Das Tanzgut entstand aus dem tänzerischen Leben und dient dem tänzerischen Leben. Es wird mit einem tänzerischen Ansatz gepflegt, gestaltet und entwickelt und bietet damit Raum für gemeinschaftliche Aktionen, die wiederum Menschen, in ihrem Bemühen für Frieden, Heilung und Liebe unterstützen.

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